Neurologie: Auf den Hund gekommen
04.07.2000
Tessa, die Golden Retriever-Hündin von Thomas Brandt, dürfte vermutlich der einzige Hund sein, der jemals im renommierten Medizinerblatt LANCET abgebildet wurde: In der Ausgabe vom 28. August 1999 beschreibt der Neurologe eine Beobachtung an seiner vierbeinigen Hausgenossin, die von seinem Team anschließend an Patienten und freiwilligen Versuchpersonen überprüft wurde.
Resultat: Im Falle einer akuten einseitigen Störung des Gleichgewichtsorganes können Hund und Mensch beim schnellen Gehen oder Laufen besser die Balance halten als wenn sie vorsichtig Schritt vor Schritt setzen.
"Dies spricht dafür", erklärt Professor Brandt, Direktor der Neurologischen Klinik am Klinikum Großhadern der Universität München und seit 1. Juli Träger des Robert Pfleger-Preises - eines der höchstdotierten deutschen Forschungspreise - "dass Tier und Mensch beim Laufen offenbar ein Bewegungsmuster benutzen, das ausschließlich vom Rückenmark gesteuert wird.
Demgegenüber erfolgt beim langsamen Gehen eine weitgehende Kontrolle der Bewegung und der Balance durch das Gleichgewichtssystem und das Sehen." Nun wollen die Wissenschaftler die Hierarchie der unterschiedlichen "Bewegungsgeneratoren" in Rückenmark, Hirnstamm, Klein- und Großhirn systematisch untersuchen. Wo in der Hirnrinde sitzt das Gleichgewichtszentrum?
Bei Affen wissen die Forscher ziemlich genau, in welcher Region der Großhirnrinde die eintreffenden Signale des Gleichgewichtsorgans verarbeitet werden. Doch sind solche Erkenntnisse nicht einfach auf den Menschen übertragbar.
Darum untersuchten Thomas Brandt und seine Mitarbeiter mit bildgebenden Verfahren (PET und fMRT) Patienten, bei denen ein Schlaganfall bestimmte Hirnregionen geschädigt hatte, Patienten mit beidseitigen Störungen des Gleichgewichtsorgans und gesunde Personen. Ergebnis: Eine bestimmte Region des Großhirns verarbeitet Signale, die vom Gleichgewichtsorgan kommen - allerdings nicht nur diese.
Es ist "multisensorisch" ausgelegt, d.h. es verarbeitet auch bestimmte visuelle Sinneseindrücke. Das Areal befindet sich in der "hinteren Insel", die auf der Hirnoberfläche nicht sichtbar ist, da sie in einer Furche liegt. Die Region ist darüber hinaus mit dem Sehzentrum der Großhirnrinde, dem "visuellen Kortex", vernetzt.
Bei ihren Forschungsarbeiten entdeckten die Münchener Neurologen einen neuen Mechanismus, wie Seh- und Gleichgewichtssystem bei der Wahrnehmung von Eigenbewegungen zusammenarbeiten. Die Systeme hemmen sich gegenseitig, abhängig davon, ob sich der Mensch selbst bewegt, oder ob die Bewegung bei gleichbleibender Geschwindigkeit, etwa im Auto oder im Zug stattfindet. Bewegt sich der Mensch selbst vorwärts, dominiert der Input des Gleichgewichtsorgans.
Erfolgt die Bewegung passiv mit gleichförmiger Geschwindigkeit, dominiert der visuelle Input. "So werden Störreize und Fehlwahrnehmungen vermieden", erklärt Brandt. Solche Untersuchungen liefern jedoch nicht nur faszinierende Erkenntnisse über ein komplexes Sinnessystem. "Mit ihrer Hilfe", so Brandt, "wollen wir Störungsmuster identifizieren, die bei der Diagnostik von Schlaganfällen hilfreich sind und möglicherweise auch neue Therapieoptionen für die Rehabilitation eröffnen."
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