"Das Tabu brechen"
20.06.2000
Die weltweit umfangreichste Untersuchung von mehr als 3000 Opfern sexuellen Missbrauchs sowie die Ergebnisse einer Umfrage bei mehr als 1000 Frauen präsentieren Münchener Frauenärztinnen und Frauenärzte auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der zur Zeit in München stattfindet.
Dabei diskutieren die Ärzte auch, wie sie betroffenen Frauen besser helfen können. "Frauenärztinnen und Frauenärzte müssen sich sexuell missbrauchter
Mädchen und Frauen annehmen", fordert Prof Kindermann, Direktor der I.
Frauenklinik der Ludwig Maximilians-Universität München und Präsident
der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe.
Um das Ausmaß des vielfach verschwiegenen und gesellschaftlich tabuisierten
Leides öffentlich zu machen, das auch in der Frauenheilkunde bislang nur
äußerst selten thematisiert wurde, präsentierten Dr. Peschers und Prof.
Kindermann auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in München erstmals die bislang weltweit größte Studie mit frauenärztlichen Untersuchungsergebnissen bei Opfern von Sexualdelikten.
Erhoben wurden die Daten an mehr als 3000 Mädchen und Frauen in den Jahren 1967 bis 1983 an der Universitätsfrauenklinik Berlin-Charlottenburg. An dieser Klinik, deren Direktor damals Kindermann war, wurden alle Opfer von Sexualdelikten, die Anzeige erstattet hatten, zentral untersucht.
56% der Opfer waren jünger als 16 Jahre, jedes 5. sogar jünger als 11 Jahre. Das jüngste Opfer war 6 Monate alt. 1,5% der betroffenen Frauen waren älter als 55. "Weder Jugend noch Alter", so Peschers, "schützt vor sexuellem Missbrauch."
Tatort Familie
2/3 kannten den Täter, jedes 5 Opfer war mit ihm verwandt. "Diese Zahlen belegen", so Peschers, "daß sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der Familie oder im näheren Bekanntenkreis vorkommt." Sexuelle Gewalt durch Fremde war deutlich seltener (39,5%).
25% wurden Opfer von Langzeitmißbrauch
70% der Frauen erstatteten binnen 24 Stunden Anzeige. Bei 25% dauerte es
eine Woche und länger. Darunter befinden sich häufig die Opfer von Langzeitmissbrauch. "Diese erstatten oft erst nach Jahren Anzeige", weiß Peschers. Entsprechend hoch (40%) lag darum in dieser Gruppe der Anteil
von Frauen, die mehrfach oder jahrelang missbraucht worden waren.
Kaum körperliche Verletzungen
Bei 10% der Opfer diagnostizierten die Ärzte körperliche Verletzungen. Nur 25% der Frauen und Mädchen machten Angaben über aggressive Handlungen der Täter, am häufigsten (30%) waren Schläge. Die Opfer wurden aber auch mit Worten, durch Würgen, Festhalten oder mit Waffen bedroht. "Das Nichtvorhandensein von körperlichen Verletzungen", betont Peschers, "schließt darum eine Vergewaltigung nicht aus."
Hohe Sensibilisierung seitens der Gynäkologen notwendig
"Frauenärztinnen und Frauenärzte haben täglich mit Frauen zu tun, die Opfer sexueller Gewalt sind", erklärt Peschers. Die gynäkologische Untersuchung findet genau in der Körperzone statt, in der die Gewalt erlebt wurde.
"Frauenärztinnen und Frauenärzte sollten sich daher nicht nur mit der korrekten Untersuchung nach Sexualdelikten auskennen, sondern wissen, daß viele Frauen in ihrer Praxis Opfer sind oder gewesen sind", appelliert Peschers an ihre Kollegen. "Diesen Frauen sollten sie besonders sensibilisiert entgegentreten und ihnen Unterstützung anbieten."
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