"Die Hauptsorge des Praktikers ist nicht, eine überzeugende Diagnose zu stellen oder der Versuch, dem Patienten bezüglich seiner Lebensumstände entscheidend zu helfen. Dazu hat er nicht die nötige Zeit und manchmal auch nicht das entsprechende Fachwissen."
Mit dieser provokant anmutenden Aussage räumt Dr. Gustav Kamenski, praktischer Arzt in Niederösterreich, mit herkömmlichen Wunschvorstellungen zur Tätigkeit des Allgemeinmediziners gründlich auf. Im Gespräch mit der ÄRZTE WOCHE nennt er Ursachen der gegenwärtigen Fehlentwicklung und skizziert mögliche Auswege für den Praktiker.
Wenn nicht "Diagnostizieren" und "Heilen" das Betätigungsfeld des Allgemeinmediziners ist, was ist es dann?
KAMENSKI: Seine Aufgabe ist leider vielmehr: Wie lassen sich überwiegend somatisch Erkrankte in wenigen Minuten so verarzten, daß möglichst keine bedrohliche Gesundheitsstörung übersehen wird?
Dieser bedauerliche Zustand hat folgende Ursachen: Da die internistische Hochschuldiagnostik für die Allgemeinpraxis nicht geeignet ist, müssen Praktiker anders handeln. Unbewußt gelangen sie sehr rasch zu dreierlei Vorgangsweisen: zur direkten Diagnostik, zur örtlichen und zur allgemeinen Routine.
Mittels der direkten Diagnostik werden Fälle ohne Umschweife einer Krankheit zugeordnet. Derlei mag schon der Student auf einer chirurgischen Ambulanz bei Patienten mit Schnittwunden erlebt haben. Hier erübrigt sich die "große" Diagnostik. Örtliche Routine wiederum könnte er auf der Ophtalmologie bei einem Fall von Augenentzündung erlebt haben. Dabei ist nur eine regionale Untersuchung notwendig.
Wie kann der Allgemeinmediziner die erlernte Theorie in der Praxis umsetzen?
KAMENSKI: Vorbilder für rasche Beratungen bei Allgemein-erkrankungen bringt der Praktiker nicht in den Beruf mit. Denn gesehen und praktiziert hatte er bisher nur die klinisch-internistische Durchuntersuchung. Bei den in der Praxis herrschenden Handlungszwängen werden ihm unbewußt seinen Möglichkeiten angemessene Vorgangsweisen aufgezwungen. Um die daraus resultierenden "allgemeinen Routinen" kommt kein praktischer Arzt herum.
Hierfür ist wichtig, daß er keine ausgelesenen Fälle sieht, wie etwa ein Internist. Wird er zu einem Fiebernden gerufen, dann kann es sich - ohne Fächergrenzen - prinzipiell um jede Gesundheitsstörung handeln, die mit erhöhter Temperatur einhergeht. Dazu kommen Zeitnot und begrenzte Mittel. Und einzuweisen vermag er auch nur wenige Patienten.
Wie kann der Arzt diese schwierige Situation bewältigen?
KAMENSKI: Der Praktiker muß die wichtigsten, erfahrungsgemäß gefährlichen Krankheiten aufgrund charakteristischer Symptome möglichst ausschließen und dann je nach dem Ergebnis seiner intuitiven raschen Untersuchung handeln: ein charakteristisches Krankheitsbild (etwa beim Bild einer Pneumonie) therapieren, beim Bild eines "abwendbar gefährlichen Verlaufes" (wie einer Appendizitis) einweisen, oder bei einer völlig uncharakteristischen Symptomatik diese "abwartend offen lassen" und in engem Kontakt mit der Patientenfamilie beobachten. Bei einem so häufigen Ereignis wie z.B. beim uncharakteristischen Fieber sind die intuitiv-individuellen Vorgangsweisen von Arzt zu Arzt nicht sehr unterschiedlich. Gleichwohl vergißt jeder Allgemeinarzt im alltäglichen Berufsstreß auf wichtige Fragen und Untersuchungen.
Vor etwa 40 Jahren begann Prof. Dr. Robert Braun, gewisse Beratungen auf Tonband aufzunehmen, um aus dem "ewigen Streß des vielleicht doch etwas vergessen Habens" herauszukommen. Das Endresultat langjähriger Bemühungen waren die ersten beiden Programme für ein routinemäßiges optimales Vorgehen an der ersten ärztlichen Linie: bei gänzlich unklaren Beschwerden sowie beim uncharakteristischen Fieber.
Im Anschluß daran entwickelte Braun weitere 80 Handlungsanweisungen. Sie wurden 1976 erstmals in Buchform publiziert. Zugleich schuf Braun Mappen für die programmierte Diagnostik im Praxisalltag. Auch entsprechende Computerprogramme existieren bereits.
Welche Vorteile hat die programmierte Diagnostik im Praxis-Alltag?
KAMENSKI: Es ist das erste wissenschaftlich entwickelte Instrument für die Allgemeinmedizin. Besser als mit diesen Standards läßt sich an der ersten ärztlichen Linie nicht arbeiten: Die erfahrungsgemäß wichtigsten Fragen und Untersuchungen sind stichwortartig und problemorientiert vorgedruckt. Sie brauchen nur gestellt bzw. durchgeführt werden. Damit geht der Arzt nach dem "State of art" vor. Zusätzlich schützt ihn die automatische Dokumentation der gesamten Beratung vor Vorwürfen wegen Versäumnissen.
Hier ein Fallbeispiel: Anfang 1997 erkrankte eine 16-jährige Urlauberin in Österreich mit Fieber, Husten und Schnupfen. Am dritten Krankheitstag wurde sie nach Deutschland heimgeflogen und verstarb dort nach weiteren 48 Stunden im Spital. Terminal wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Dieses Ereignis machte Schlagzeilen: Wie konnte das beim gegenwärtigen Hochstand der Medizin passieren? Fieber, Husten und Schnupfen dürften doch heute keinen jungen Menschen mehr töten! Hatte etwa der Allgemeinarzt versagt?
In eine solche Situation kann jeder Praktiker kommen. Glücklich kann sich schätzen, wer programmiert untersucht und dokumentiert hat! Denn das ermöglicht zugleich eine hervorragende Qualitätskontrolle und erlaubt dem behandelnden Allgemeinarzt, als gleichwertiges Glied im modernen ärztlichen Teamwork mit den Spezialisten mitzureden.
Was ist der aktuelle Stand der berufstheoretischen Praxisforschung?
KAMENSKI: 1992 begann mit der Veröffentlichung der "Kasugrafie" durch Braun ein neuer Abschnitt für die angewandte Allgemeinmedizin. Sie enthält definierte Bezeichnungen für die 300 häufigsten Beratungsergebnisse an der ersten Linie. Damit können Praktiker endlich bei über 95% der Fälle so miteinander reden, wie das in der Hochschulmedizin bei allen exakt diagnostizierten Gesundheitsstörungen selbstverständlich ist: in einer eigenen Fachsprache!
Es gibt eine Reihe anderer, wichtiger Ergebnisse der berufs-theoretischen Praxisforschung. So wurde mit dem "Fälleverteilungsgesetz" schon im Jahr 1955 das Grundgesetz für die gesamte angewandte Heilkunde beschrieben.
Die Begriffe "abwendbar gefährlicher Verlauf" und "abwartendes Offenlassen" haben sich in der Medizin schon weitgehend eingebürgert. Ferner stellen die Härtung des unverbindlich gewordenen Diagnosebegriffs und dessen Ergänzung durch die Klassifizierungen von Symptomen, Symptomgruppen und Krankheitsbildern wichtige Fortschritte dar.
Um die Definition der Allgemeinmedizin dagegen werden wir uns erst dann zu kümmern brauchen, wenn sie allgemein auf wissenschaftlicher Basis ausgeübt wird, und das in klar begrenztem Umfang.
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