Ich habe z.B. kürzlich einen Patienten vorgestellt bekommen, der sich vor einem halben Jahr bei einem Arbeitsunfall einen Zeigefinger abgequetscht hat. Er wurde mehrfach operiert und fühlt sich verstümmelt. Die unfallchirurgischen Kollegen haben das Gefühl, er sei auf Schuldzuweisungen festgebissen: Man habe ihn verpfuscht. Er schilderte detailliert, was alles bei seiner Behandlung schief gegangen wäre.
Ich bin nicht imstande, die Vorwürfe auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Einerseits äußert der Patient tatsächlich aggressive Anschuldigungen, die nicht alle stimmen dürften, andererseits zeigt er Schwachstellen im System auf. Beispielsweise klagt er: "Warum werde ich nüchtern ins Krankenhaus bestellt und dann nicht operiert? Der eine Arzt sagt, er macht einen Salbenverband, und der andere sagt, er operiert. Warum geht man mit mir so um?" Das stimmt, das ist medizinischer Alltag. Divergierende Meinungen werden oft vermittelt und verunsichern enorm.
Also einerseits ist die Ansicht des Patienten verzerrt, andererseits sind realistische Tatsachen dabei. Er fühlt sich jetzt völlig alleingelassen. Zu mir ist er nur deshalb gekommen, weil ihm der Patientenanwalt dazu geraten hat. Er müsse jetzt alles mitmachen, außer sich operieren lassen, weil sonst werde ihm vorgeworfen, er hätte nicht alles in Anspruch genommen.
Der Patient ist nur mehr auf gerichtliche Sachen fixiert und eigentlich in einer irrsinnigen Not. Er fühlt sich verpfuscht, fühlt sich in seinem Selbstwert, in seiner Ganzheit massivst beeinträchtigt, wird aber nicht verstanden, auch deshalb, weil er in seinen Klagen überzieht.
Schuld an diesem Zustand ist das häufige Nichtwahrnehmen der Not eines Menschen in der ärztlichen Praxis. Andererseits soll der Arzt unmögliche Dinge bewirken und traut sich nicht zu sagen, daß er das nicht kann.
Letztlich wird der Patient dann zu mir als psychotherapeutisch-psychiatrische Ärztin geschickt, damit ich die Funktion eines Feuerlöschers übernehme.
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