Vor überzogenen Erwartungen an die Genomforschung hat der US-amerikanische Nobelpreisträger für Medizin Martin Rodbell gewarnt. Auf dem Abschlußvortrag des 2. Congress of Molecular Medicine in Berlin widersprach Rodbell damit seinem Freund und Institutskollegen Craig Venter, der auf dem selben Kongreß den Eröffnungsvortrag gehalten hatte.
Der Wissenschaftler vom National Institut of Health in Research Triangle Park im US-Bundesstaat North-Carolina, der die höchste wissenschaftliche Auszeichnung für Medizin im Jahr 1994 erhalten hatte, plädierte für einen ganzheitlichen Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Umwelt- und genetischen Einflüssen. Viele Wissenschaftler und Pharmaunternehmen glauben, wie Rodbell sagte, an den Leitsatz "ein Gen -eine Funktion" und daran, daß eine Enzyklopädie dieser Gene wichtige Informationen für die Entstehung von Krankheiten liefern werde.
"Aber auch wer eine Enzyklopädie liest, versteht deshalb noch nicht die Welt", formulierte der Forscher. Zellen reagieren nach seinen Angaben flexibel auf die Umwelt und ließen sich deshalb nicht mit Computern gleichsetzen, die auf festgeschriebene Informationen mit einem starren Programm-ablauf reagieren.
Rodbell verwies auf das Enzym Glycerinaldehyd-3-Phosphat-Dehydrogenase, von dem schon seit 60 Jahren bekannt ist, daß es in Form eines Viererkomplexes am Zuckerabbau im Zitratzyklus beteiligt ist.
Erst kürzlich haben Wissenschaftler herausgefunden, daß dieses Enzym auch im Zellkern vorkommt, wo es als Zweierkomplex an der Genregulation beteiligt ist. Mit dieser Bedeutung ist Glycerinaldehyd-3-Phosphat-Dehydrogenase neueren Forschungen zufolge auch an der Entstehung des Bloom-Syndroms beteiligt, einer seltenen Erbkrankheit mit häufigen Chromosomenbrüchen. Sie geht mit Zwergwuchs, Immundefizienz und stark erhöhter Krebshäufigkeit einher.
"Das gleiche Enzym besitzt also zwei ganz unterschiedliche Funktionen, die sich nicht aus der Sequenz des zugehörigen Gens ableiten lassen", betonte Rodbell. Angesichts vieler ähnlicher Beispiele kommt der Medizin-Nobelpreisträger zu dem Schluß, daß Pharmaunternehmen generell den Stellenwert der Genomanalyse überbewerten. "Dies mag zwar gut sein für die Aktionäre, doch bin ich eher skeptisch, ob sich die vielen Versprechungen halten lassen."
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