Interdisziplinäre Aspekte, beleuchtet aus internistischer und zahnmedizinischer Sicht.
*Prof. Dr. Erich Minar, Angiologe:
In den zivilisierten Ländern wird heute die Hälfte der Todesfälle den Komplikationen der Atherosklerose, wie Koronarthrombose und Myokardinfarkt, zugeschrieben. Es fehlte daher in der Vergangenheit nicht an Anstrengungen, Risikofaktoren für diese Erkrankungen aufzuspüren. Verschiedene Studien haben gezeigt, daß zu den Hauptrisikofaktoren das Rauchen, Fettstoffwechselstörungen, Blutdruckabweichungen, Diabetes, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel und Streßbelastung gehören.
Zusätzliche andere Faktoren wurden mit akutem Myokardinfarkt assoziiert, z.B. erhöhte Leukozytenwerte, CRP-Erhöhung, hohe Hämatokritwerte, Fibrinogenerhöhung und erhöhte Homocysteinspiegel. Diese Risikofaktoren können allerdings nur circa 70 Prozent der Infarkt-ereignisse erklären. Dies spricht dafür, daß es andere Faktoren gibt, die das Myokardinfarktrisiko erhöhen oder zumindest die Rolle der akzeptierten Risikofaktoren modifizieren. Unter diesen erwecken Infektionen zunehmendes Interesse.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Osler vermutet, daß Infektionen ein Faktor sein können, der zur Induktion oder Progression der Atherosklerose beiträgt. Neben Störungen des Glukose- und Lipidstoffwechsels sind Veränderungen im Gerinnungs- und Fibrinolysesystem inklusive einer gesteigerten Thrombozytenaggregation sowie eine vermehrte Zytokinproduktion als pathogene Faktoren beschrieben. Diese Veränderungen können noch wochenlang nach einer akuten Infektion nachweisbar sein, und ihr Ausmaß steht in Beziehung zum Schweregrad der Infektion.
Endothelzellen werden in experimentellen Modellen durch Endotoxine geschädigt. Erwähnenswert ist in bezug auf infektiöse Beteiligung der in letzter Zeit stark diskutierte Zusammenhang zwischen koronarer Herzkrankheit und Chlamydieninfektion. Unter anderem wird auch eine mögliche Beteiligung parodontaler Erkrankungen diskutiert.
*Dr. Wilhelm Schein, Zahnarzt, Parodontologe:
In mehreren Studien wurde bisher ein möglicher Zusammenhang zwischen Parodontitis und Herzerkrankung gefunden. Beschrieben wurde ein erhöhtes Risiko für koronare Herzkrankheit bei Parodontitis und schlechter oraler Hygiene, insbesondere bei Männern unter 50 Jahren. Die Aktivität von Faktor 8 und seinen Cofaktoren in Richtung erhöhte Thromboseneigung war assoziiert mit schlechtem dentalen Zustand.
Patienten mit Parodontitis zeigten signifikant erhöhte Leukozytenzahlen und Fibrinogenspiegel. Zwei Studien (Umino et al; Nery et al.) zeigen, daß die Herzerkrankung der häufigste Krankheitszustand ist, der bei Parodontitis-Patienten gefunden wird. Endotoxine aus der Plaque können die Gingiva penetrieren und systemische Wirkungen entfalten. Durch den Verlust der epithelialen Integrität kann es zu rezidivierenden Bakteriämien kommen. Gram-negative Bakteriämien oralen Ursprungs können bereits durch Manipulationen wie beim Zähneputzen auftreten. Je stärker die parodontale Entzündung, desto stärker ist die hämatogene bakterielle Exposition.
Intravasal kommt es durch die Keime und ihre Produkte, zum Teil durch Freisetzung von starken Entzündungsmediatoren aus den Monozyten (PgE2 ,IL-1b, TNF-alpha), zu Schädigungen der Gefäßwand und Veränderungen der Hämostase. Herzberg et al. wiesen nach, daß Streptococcus sanguis zu einer verstärkten Thrombozytenaggregation führt, und experimentell konnten durch Infusion von Streptococcus sanguis Myokard-infarktsymptome ausgelöst werden. Weiters sprechen Beobachtungen anderer Autoren dafür, daß bei manchen Parodontitisformen ebenso wie bei Atherosklerosepatienten ein hyperreaktiver Entzündungsablauf vorliegen könnte.
*Gemeinsame Schlußfolgerungen:
Auch wenn die Infektion als Risikofaktor für Atherosklerose und kardiovaskuläre Erkrankungen noch nicht allgemein akzeptiert ist, gibt es doch viele klinische wie auch experimentelle Befunde für deren pathogene Bedeutung bei diesem Krankheitsgeschehen. Bisher kann als Tatsache gelten, daß die Parodontitis bzw. orale Infektionen - sofern sie chronisch verlaufen - einen Ausgangspunkt für rezidivierende Bakteriämien darstellen. Als Folge können Veränderungen der Hämostase sowie an den Endothelzellen auftreten, von denen bekannt ist, daß sie die Atheroskleroseentstehung begünstigen können bzw. zu erhöhter Gerinnungsneigung führen.
Die Parodontitis ist insofern heimtückisch, als sie lange Zeit schmerzlos und symptomarm verläuft. Dies erschwert die recht-zeitige Diagnose, insbesondere wenn der Patient nicht regelmäßige zahnärztliche Kontrollen in Anspruch nimmt. Da zur exakten Diagnosestellung Röntgenaufnahmen und Sondierungen erforderlich sind, erfolgt die Diagnose in den seltensten Fällen durch den Allgemeinmediziner.
Auch anamnestisch wird der intraoralen Situation nicht immer Bedeutung geschenkt. Vice versa mögen die oben angeführten Beobachtungen bezüglich Atherosklerose auch nicht allen Zahnärzten bekannt sein, was zu einer Unterschätzung der allgemeinmedizinischen Bedeutung intakter Mundhygiene führen kann. Die Erhebung einer allgemeinmedizinischen Anamnese sollte daher beim Zahnarzt Routine sein, ebenso wie der Praktiker und Internist die Pathologie der Mundhöhle in seine Diagnose einbeziehen sollte.
Die definitive Bedeutung dentaler Infektionen in der Ätiopathogenese atherosklerotischer Erkrankungen muß noch durch weitere Untersuchungen abgeklärt werden. Bisherige Beobachtungen legen jedoch nahe, daß die Parodontitis, die weit verbreitet ist und mit dem Alter zunimmt, einen wichtigen, aber bisher zu wenig beachteten Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen darstellt. Eine intensive Zusammenarbeit zwischen Zahnarzt, Allgemeinmediziner und Internisten ist daher anzustreben.
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