artikel nr: 3472

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Renaissance eines geächteten Arzneimittels

Manches Medikament kann noch Jahrzehnte nach seiner Einführung einen therapeutischen Durchbruch vollbringen, wenn sein ursprüngliches Einsatzgebiet längst aufgegeben worden ist. Dies gilt auch für Thalidomid (Contergan), das seinerzeit als Schlafmittel im Gebrauch, wegen seiner verheerenden Wirkungen auf den Fetus vor 40 Jahren vollständig aus dem Verkehr gezogen wurde.

Bei weltweit etwa 10.000 Neugeborenen, deren Mütter das Schlafmittel während der Schwangerschaft eingenommen hatten, hatte Thalidomid Fehlbildungen der Gliedmaßen verursacht. Mittlerweile hat die Substanz jedoch aufgrund ihrer vielfältigen Wirkmechanismen eine Renaissance in mehreren Bereichen der Medizin erlebt, allerdings unter hohen Sicherheitsauflagen, die u. a. eine Einnahme bei Schwangerschaft ausschließen.

Zu den neuen Einsatzgebieten von Thalidomid gehört auch das Multiple Myelom (Plasmozytom), eine Tumorerkrankung der Plasmazellen im Knochenmark. Bereits Anfang der siebziger Jahre hat die Weltgesundheitsorganisation den Einsatz von Thalidomid bei Lepra empfohlen.

Aber auch in anderen Bereichen der Medizin löste die sich abzeichnende Wirksamkeit des Mittels bei verschiedenen Tumoren und Immunerkrankungen vielfältige Forschungsaktivitäten aus. "Thalidomid verfügt über mehrere Wirkmechanismen", erklärt Dr. Goldschmidt von der Universitätsklinik Heidelberg. "Es verhindert die in Tumoren üblicherweise einsetzende Neubildung von Blutgefäßen. Gleichzeitig wirkt es direkt toxisch auf die Tumorzellen und stimulierend auf bestimmte Immunzellen sowie deren Botenstoffe, die Zytokine."

Rückbildung des Tumors, wenn die Chemotherapie versagt
Etwa ein Drittel der Patienten mit einem Multiplen Myelom, denen eine Chemotherapie nicht helfen konnte, profitieren von Thalidomid, wie erste Studien in den USA zeigten: Die Tumoraktivität bildet sich zurück. Vor drei Jahren wurden in der Heidelberger Klinik Therapiestudien begonnen, an denen mittlerweile 200 Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland teilnehmen.

"Die Wirksamkeit des Medikamentes hat sich bestätigt", berichtet Dr. Goldschmidt. "Außerdem haben wir seine Nebenwirkungen besser kennengelernt." Diese äußern sich vor allem in der Bildung von Blutgerinnseln und Herzrhythmusstörungen. Dennoch sind die Heidelberger Ärzte davon überzeugt, dass Thalidomid bei sehr weit fortgeschrittener Erkrankung das Leben um viele Monate verlängern kann.

Einen entscheidenden Beitrag hat die Heidelberger Arbeitsgruppe auch bei der Aufklärung der krebsbekämpfenden Mechanismen von Thalidomid geleistet. So konnte die Forschergruppe um Dr. Goldschmidt zeigen, dass die Thalidomid-Therapieergebnisse mit einer genetischen Variante des sogenannten Tumornekrosefaktors (TNF alpha) einhergehen, einem wichtigen Regulationsprotein der Immunreaktion.

Seine höhere Konzentration im Serum wird wiederum von einer verlängerten Lebenszeit begleitet. Dies bietet möglicherweise sogar einen Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer Therapieformen beim Multiplen Myelom. Literatur: K. Neben, J. Mytilineos, T. Moehler, A. Preiss, A. Kraemer, A. Ho, G. Opelz, H. Goldschmidt (2002): Polymorphisms of the tumor necrosis factor-a gene promoter predict for outcome after thalidomide therapy in relapsed and refractory multiple myeloma. Blood, Vol. 100, No. 6, 2263-2265

K. Neben, T. Moehler, A. Benner, A. Kraemer, G. Egerer, A. Ho, H. Goldschmidt (2002): Dose-dependent Effect of Thalidomide on Overall Survival in Relapsed Multiple Myeloma. Clinical Cancer Research, Vol. 8, 3377-3382


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